Es gibt Tage, da geht nichts. Und schon gar nicht voran. Wo all die bunten Bälle, die man jonglierend durch die Luft wirbelt und dies dann gerne Arbeit nennt, allesamt farblos zu Boden plumpsen. Wo es überhaupt zu viele Bälle sind, sodass man sich nicht einmal entscheiden kann, welchen man zuerst aufheben sollte, um irgendwie wieder in Gang zu kommen.
Solche Tage sind gefährlich. An solchen Tagen ist mir jeder Scharlatan willkommen, der verspricht, er könne mir helfen, mit meinem Dasein wohlorganisiert weiterzukommen — und mir überdies vorlügt, ich könne sogar ein glücklicherer Mensch werden. An solchen Tagen ist meine Anfälligkeit für heilsversprechende Software aller Art akut: Tools für die Projektplanung und -durchführung, ablenkende GTD-Krücken, ausgetüftelte Projektzeitmesser, die mich doch bitte, bitte ins Stechuhrenkorsett schnüren mögen. An solchen Tagen kaufe ich sie alle. Hauptsache, es hilft!
Und solch ein Tag war mal wieder. Zunächst fand ich mich ohne geeignete Brille in meinem Büro wieder: So konnte ich unmöglich konzentriert am Bildschirm arbeiten! Ein Projekt, dass allzu lange auf Eis gelegen hatte, drohte außerdem zu zerfließen. Es war einfach nicht in den Griff zu bekommen — und ohne richtige Brille schon gar nicht. Also versuchte ich Theoretisches zum Thema wieder aufzufrischen: Bücher waren da, eine für den Leseabstand passende Brille auch. Aber dröge war es, zumal ohne die Möglichkeit, am Computer zu experimentieren. Nein, ich brauchte keine drögen Theoretiker, ich brauchte einen Prediger, der mich aufpeppen konnte! Ich brauchte so einen coolen Ablasskrämer, der mir irgend einen Ratgeber, ein Stück Software oder am liebsten gleich beides für zuviel Geld andrehen würde, dass ich das Gefühl hätte, etwas für mein Arbeitsleben getan zu haben und einen großen Schritt weiter gekommen zu sein. Ich musste mir eine Portion gutes Gewissen kaufen.
Also ging ich in den AppStore meines Smartphones, auch hier alles im perfekten Leseabstand zugänglich. Ich hatte ja im Prinzip auch keine andere Wahl wegen der vergessenen Brille. Bunte Ablassbilder blättern war schon rein optisch das Einzige, was ich an diesem Tag zu bewerkstelligen vermochte. Nun gleicht der AppStore einem großen Heuhaufen, von dem man nicht so recht weiß, ob er die begehrte Stecknadel überhaupt enthält. Aber auch dafür gibt es natürlich eine App, genannt AppAdvice, in welcher die angeblich besten Apps in zig Kategorien aufgelistet und kurz beschrieben sind. So gelangte ich zur Kategorie “Best Chore Management Apps”. OK, den lästigen Haushalt wollte ich im Moment zwar eher nicht managen, aber wenn solche Apps nun auch andere aufdringliche Dinge bändigen könnten? 10 Minuten Staubsaugen oder 10 Minuten Java tippen ist doch wohl ziemlich dasselbe, dachte ich. Aber es sollte besser kommen: “Best Goal-Setting Apps”! Genau so etwas brauchte ich: Einpeitscher, die einen auf den Pfad der Tugend, also zu angeblich guten Gewohnheiten führen können und einem so dabei helfen, seine Ziele für einen bescheidenen Betrag mühelos zu erreichen. Das war genau so ein Ding, wie ich es suchte! Wie züchte ich mir ein paar gute Gewohnheiten und schwöre dem Bösen ab? Indem ich meine Ziele und mein Tun&Lassen brav aufzeichne, mit gerunzelter Stirn verfolge und Trends berechnen lasse. Der Gewohnheitstracker als digitaler Beichtstuhl. Also endlich zum Teufel mit den ganzen unproduktiven und somit unmoralischen Verlockungen! Endlich besteht die Aussicht, für wenig Geld ein besserer Mensch zu werden: “Thankfully, there are some apps that will help you create some healthy new habits to move your life in the right direction” tönte es verheißungsvoll in der Beschreibung. Zu den teureren dieser Apps zählt The Habit Factor®, für den höheren Preis bekommt man dann aber sogar ein eingetragenes Warenzeichen. Das muss doch wohl für Seriosität bürgen… Also gleich her damit — zunächst in einer kostenlosen Demoversion. Und der gute Mann dahinter hat sogar ein Buch geschrieben! Auch gleich her damit — zunächst einmal nur eine Leseprobe. Der Mann schreibt verlockend. Seine Schreibe liest sich so angenehm, man versteht sofort, dass man ein armer Sünder auf dem falschen Pfad ist und einem mit The Habit Factor® die Bekehrung zum rechten Dasein beschert wird. Die Versuchung ist groß, gleich das ganze Buch zu laden. Man fühlt sich so verstanden, es gibt so herrlich viele Gemeinplätze darin, dass selbst populistische Politiker einem dagegen wie Fachidioten vorkommen. Also gleich mal untersuchen, was die dazugehörige App zu bieten hat. Na ja… Würde ich in puncto Design und Funktionalität genauso schlampige Programme hinlegen, ich würde mich schämen, keinesfalls dafür auch noch Geld verlangen. Und plötzlich ist es da: das ernüchternde Gefühl, nicht viel mehr zu bekommen als billig verpackte Scharlatanerie zum Halsabschneiderpreis. Und das war es ja wohl auch, wonach ich suchte.
Am Ende kurbelt das schlechte Gewissen darüber, so wenig Sinnvolles an diesem Tag bewerkstelligt zu haben, den Verstand wieder an und ich frage mich nun: War das ein Traum? Die Ablass-Artefakte, die jetzt auf meinem Smartphone spuken, sprechen leider eine andere Sprache: Kein Traum, nur mal wieder einer von diesen Tagen! Ein Tag, dem dasselbe Schicksal widerfährt wie den neuen Apps: Er wird gelöscht.