Die Zukunft, so liest man immer wieder, gehört elektrischen Büchern, auch gern modern E-Books genannt. Lesegerät vorausgesetzt, lassen sie sich überall und jederzeit lesen, sie wiegen & füllen nichts, sind quasi körperlose Wälzer, purer Geist in Computer-Dateien gebannt. Wobei das Lesegerät oder die Lese-App auf dem Tablet oder Smartphone nichts anderes ist als das Mittel, dem Leser den Geist der Dateien sichtbar zu machen. Ein wesentlicher und unter Umständen verheerender Unterschied also zum traditionellen, gedruckten Buch: Ohne Leseapparat geht gar nichts!
Bücher in Gestalt von Dateien hätten theoretisch viele Vorteile: Zum Beispiel könnten sie komplexe Suchen oder quantitative inhaltliche Analysen ermöglichen – aus sprachtechnologischer Sicht wäre das Potenzial immens. Zudem ließen sich solche virtuellen Bücher mit eigenen Notizen versehen, die wiederum mit anderen Büchern oder Informationen verknüpft werden könnten. Ein solchermaßen analysiertes und annotiertes Buch ließe sich zum Beispiel als Grundlage einer wissenschaftlichen Arbeit, für einen Artikel in einer Zeitung, oder für eine Besprechung in einem Blog verwenden, indem man einfach seine Analysen und Notizen exportiert. Theoretisch ginge das. Wie sieht also die Praxis aus?
Seit Jahren schon steht Amazons Kindle als Möglichkeit bereit, E-Bücher zu erwerben und mit entsprechendem Gerät zu lesen. Da in der Anfangsphase primär der amerikanische Markt bedient wurde, hat mich diese Art des neuen Lesens mangels kultureller Vielfalt damals nicht wirklich interessiert. Eine Änderung ergab sich erst mit dem Erscheinen des iPads samt iBook-Lese-App mit integriertem Store. Plötzlich war die Möglichkeit da, auf einem Gerät, das ich eigentlich zu anderen Zwecken erworben hatte, auch Bücher zu lesen. Und obwohl das deutschsprachige Angebot in der Anfangsphase sich auf recht betagte Texte beschränkte, bei denen das Urheberrecht abgelaufen war, probierte ich es aus. Die schwerelose neue Art des Lesens gefiel mir sofort, zumal sie meinem Lebensstil, zwischen zwei bis drei Orten hin- und herzupendeln sehr gelegen kam. Nun hatte ich Lesbares jederzeit dabei! Ich konnte Notizen machen, ich konnte Textpassagen anstreichen und es funktionierte, egal ob ich nun gerade auf dem iPhone oder dem iPad las. Alles war immer da. Ich war in einer neuen Welt angekommen, in einer neuen Dimension des Lesens. Glaubte ich.
Eines Tages bekam ich einige Kurzgeschichten von einem Bekannten, der sich in seiner Freizeit an eigenen literarischen Produktionen abmüht. Ich hatte versprochen, seine Geschichten kritisch zu lesen und ihm danach meine Anmerkungen zu überlassen. Ich bekam den Text als EPUB-Datei und las sie wie gewohnt in der iBook-Lese-App. Als ich schließlich meine umfangreichen Kommentare exportieren und als E-Mail an den Autor schicken wollte, entdeckte ich zu meinem Schrecken, dass zwar meine Kommentare exportierbar waren, nicht aber die von mir markierten Stellen im Text, auf die sich die Kommentare bezogen, geschweige denn Seitenzahlen oder entsprechende Referenzen. Meine Kommentare waren völlig losgelöst vom Text und somit ohne Nutzen. Mehrere Stunden Arbeit schienen umsonst. Es gab keine unmittelbare Möglichkeit, die Kommentare zusammen mit den Textpassagen, auf die sie sich bezogen aus iBooks herauszubekommen. Meine Lösung war letztendlich, von jeder Passage, zu der ich Kommentare hatte, ein Bildschirmfoto auf dem iPad zu machen. Diese Screendumps konnte ich meinem Bekannten umständlich auf mehrere Mails verteilt schicken. Übertragen auf die gute alte hölzerne Bücherwelt hieße dies, dass ich zwar Randnotizen im Buch schreiben dürfte. Wenn ich allerdings meine Notizen lieber auf einem gesonderten Stück Papier schreiben möchte, dann dürfte ich ihnen keine Seiten- oder Zeilenangaben hinzufügen. Sollte das etwa eine neue Dimension des Lesen sein? Sollte die Arbeit mit einem Text wirklich so umständlich in der tollen, neuen Lesewelt sein? Ich untersuchte die Funktionsweise von iBooks näher und musste wütend feststellen, dass es niemals möglich ist, angestrichene Passagen aus einem ansonsten völlig frei zugänglichen Text zu exportieren. Die offensichtliche Strategie dahinter: Texte konsumieren ist OK, mit Texten professionell arbeiten? Darf man nicht! Obwohl iBooks von der Benutzerfreundlichkeit und von der typografischen Darstellung der Inhalte her bislang unübertroffen ist, macht die fehlerhafte Exportfunktion, die wahrscheinlich seitens Apples völlig beabsichtigt ist, diese App völlig nutzlos für meine Art, Texte zu rezipieren. Durchgefallen iBooks! Mit uns kann es so nichts werden.
Die Besorgnis der Verlage, dass keiner ihre E-Bücher mehr kaufen würde, wenn man sie einfach nur kopieren oder ihren Inhalt komplett exportieren könnte, hat dazu geführt, dass die meisten kommerziell verwertbaren Bücher nur in verschlüsselter Form an den Konsumenten abgegeben werden. Dazu sind Mechanismen zur Verwaltung digitaler Rechte, kurz DRM, entwickelt worden. In der Regel bewirken sie, dass sich kommerzielle E-Bücher nur auf einer begrenzten Anzahl von Lesegeräten eines bestimmten Lesers (sprich Kunden) öffnen lassen. Somit wird das E-Buch zu einer Art Gegenstand, zu einem Exemplar, vergleichbar mit einem gedruckten Buch. So weit, so gut. Einen Gegenstand kann ich allerdings auch ausleihen oder weitergeben. Das geht im Gegensatz zum gedruckten Buch jedoch nicht oder nur äußerst umständlich bei E-Büchern. Das Zusammenführen oder Trennen von Bibliotheken mehrerer Personen ist – wieder im Gegensatz zum gedruckten Buch – auch nicht richtig möglich. Dass Menschen zusammenziehen wollen oder sich trennen möchten, ist nicht vorgesehen in der neuen digitalen Bücherwelt.
Auch die freie Wahl eines Lesegeräts oder einer Lese-App ist nicht so richtig vorgesehen: iBooks akzeptiert ebenso wie der Kindle Reader nur solche DRM-verschlüsselten Texte, die aus dem jeweiligen angegliederten hauseigenen Shop stammen, womit die meisten anderen E-Buch-Händler auf der Strecke bleiben, da sie in der Regel andere DRM-Mechanismen verwenden. In der realen Bücherwelt hieße das, dass ich ein Buch, dass ich in der Buchhandlung ‘Kafka’ erworben habe, nur mit einer entsprechenden Brille lesen kann, die ich ebenfalls in derselben Buchhandlung kaufen muss, die aber nicht zum Lesen von Büchern taugt, die ich im Buchladen ‘Camus’ gekauft habe, denn diese erfordern die besondere ‘Camus’-Brille, die es natürlich nur dort gibt. Wo kaufe ich jetzt? Und was mache ich, wenn ‘Kafka’ pleite und meine ‘Kafka’-Brille kaputt geht? Dann ist wohl Schluss mit den ‘Kafka’-Büchern! Oder auch erlangen sie dann ein monströses Eigenleben als bürokratischer Albtraum. Dieser Albtraum könnte auch dann schon beginnen, wenn Adobe, Amazon oder Apple einfach nur eine neue DRM-Version einführen. Wer garantiert mir dann, dass ich alte Bücher auf neuen Geräten oder neue Bücher auf alten lesen kann? Und welcher E-Buchhändler garantiert mir übrigens, dass meine bei ihm gekauften Bücher auch in 20 Jahren überhaupt noch lesbar sind?
Abseits von Apple & Amazon gibt es allerdings auch viele Anbieter, darunter auch ganz normale altmodische deutsche Buchhändler, die auf den modernen Elektro-Zug aufgesprungen sind. Vielleicht sollte man es mit denen einmal versuchen, obwohl es wahrscheinlich das vernünftigste wäre, am besten sofort in die weniger absurde papierne Bücherwelt zurückzukehren. Da die A&A-alternativen Anbieter offenbar allesamt auf Adobes DRM-Mechanismen schwören, musste schleunigst eine Adobe-DRM-fähige Lese-App her. Nach einigem Herumexperimentieren fiel die Wahl schließlich auf den Bluefire Reader. Dieser kann EPUB mit gegenwärtiger Adobe-Verschlüsselung und auch ohne. Vor allem ist er nicht als offensichtlich absichtlich defekte App programmiert, da er sehr wohl zwischen freien Texten und verschlüsselten zu unterscheiden weiß. Und er erlaubt es, bei freien Texten sowohl Notizen als auch die angestrichenen Passagen, auf die diese sich beziehen, zu exportieren. Zwar ist sich Bluefire bei der Textdarstellung etwas unsicher, insbesondere tut er sich bei der Silbentrennung schwer, die allerdings bei Kindle so gut wie gar nicht funktioniert. Die Kindle-App schlampt übrigens in der typografischen Darstellung dermaßen gründlich, dass einem zeitweilig das Textverarbeitungsfeeling der Neunziger beschleicht. Die Kindle-App, das spürt man deutlich, ist in erster Linie als Verkaufs-App konzipiert. Lesen stört da nur beim Geschäft. Bluefire bietet dem Leser deutlich mehr – und ist der bislang beste Lese-App-Kompromiss in der iOS-Welt.
Man könnte es ja auch mit einem richtigen Lesegerät versuchen, das für den Zweck des Lesens von E-Büchern speziell entwickelt wurde. Wieder war mir die Amazon-Welt zu beengt und in der ebenfalls beschränkten Apple-Welt gibt es keine autonomen Lesegeräte. Also blieben im Prinzip nur noch Adobe-DRM-fähige Lesegeräte übrig. Leiderfüllt von meinen iBooks-Notizerfahrungen hatte ich schlimme Befürchtungen hinsichtlich der Funktionalität solcher Geräte. Und sie haben sich – wen wundert es? – allesamt bestätigt. Zahllos sind die Geschäfte, in denen ich mit den Funktionen der unterschiedlichsten Lesegeräte herumexperimentiert habe. Und keines kann zum Beispiel Notizen zusammen mit Referenzstellen exportieren, ja nicht einmal die nackten Notizen an sich, eine banale Grundfunktion. Geht. Überhaupt. Nicht. Habe ich etwas übersehen? Man möge mich doch bitte-bitte eines Besseren belehren! Dennoch kaufte ich einen Tolino Shine, um weitere Erfahrungen zu sammeln. Bisheriges Fazit: Den einzigen Vorteil, den ich unmittelbar gegenüber Leseapps auf Tablets und Smartphones erkennen kann, ist der, dass selbständige Lesegeräte aufgrund der technischen Konzeption ihrer Bildschirme auch bei strahlendem Sonnenschein zu benutzen sind und ihre Akkus lange halten. Die Kehrseite dieser ohnehin recht bescheidenen Medaille ist, dass sie nur Schwarz-Weiß beherrschen und das auch nur bei Kontrastverhältnissen, die an Fernsehbildschirmen aus den Fünfzigern erinnern. Dafür sie sind natürlich viel billiger als Tablets und Smartphones. Können aber auch nicht viel mehr als Buch. Und selbst das nicht besonders überzeugend. Heute ist mein Tolino nur bei Sonnenschein auf der Terrasse oder am Strand in Betrieb. Also recht selten.
Für E-Bücher spricht schlussendlich nur noch ihr geringes Gewicht und das daraus resultierende Immer-Dabei. Ein bescheidener Vorteil für den Leser, aber wohl der entscheidende Vorteil für den Verlag, denn er spart sich die Druck-, Lager- und Vertriebskosten und verlangt trotzdem annähernd denselben Preis wie für ein gedrucktes Buch. Dafür gibt es aber nicht einmal eine Haltbarkeitsgarantie. In allen anderen Belangen, insbesondere dem der ernsthaften, aktiven Rezeption, sind E-Bücher gegenwärtig dem herkömmlichen, gedruckten Buch unterlegen. So bedeutet “digitale Revolution” auf dem Büchermarkt kulturtechnischer Rückschritt und Frust für Leser. E-Bücher sind weder ‘E’ noch ‘Buch’, solange das Potenzial der digitalen Welt von einer innovationsunfähigen Branche im künstlichen Koma gehalten wird.
Dass es auch anders funktionieren kann, zeigen eine Reihe von dänischen Verlagen, hierunter der älteste und größte, Gyldendal. Denn sie versehen ihre E-Bücher mit digitalen Wasserzeichen. Die Bücher sind digital voll nutzbar, wie man es von einem E-Buch erwarten dürfte, allerdings befinden sich in der Datei versteckt eingearbeitete Informationen über den Käufer. Taucht die Datei also plötzlich in anderen Kontexten auf als jene, für die sie vorgesehen war, dann blüht dem Käufer wohl Schreckliches. Von dieser Politik dürften sich auch gern deutsche Verlage bitte eine dicke Scheibe abschneiden. Es funktioniert – und das obwohl das Preisniveau viel höher ist als in Deutschland. Bis sich diese Vernunft auch bei deutschen und anderen europäischen Verlagen breit macht, bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder man entfernt die DRM-Verschlüsselung und nutzt daraufhin sein E-Buch wie ein herkömmliches Buch mit der Möglichkeit von Anmerkungen, Weitergabe, freie Wahl des Lesegerätes. Oder man bleibt besser gleich beim gedruckten Buch.
