Die großen Inklusionen

Bo Lidegaard, ein dänisches Wunderkind in Geschichte, Staat und Politik — und neuerdings auch in der Journalistik unterwegs —, hat kürzlich sein x. Buch veröffentlicht: En fortælling om Danmark i det 20. århundrede (Eine Erzählung über Dänemark im 20. Jahrhundert). Es erzählt auf 460 Seiten angeblich ganz undröge von der gesellschaftlichen Entwicklung in Dänemark im 20. Jahrhundert im Wechselspiel mit den geschichtlichen Prozessen in der übrigen Welt. Und es gibt einen Ausblick auf die Herausforderungen der Zukunft.

In einer Sendung, ausgestrahlt im öffentlich-rechtlichen dänischen Rundfunkprogramm P1, stand Lidegaard aus diesem Anlass am 12. September einem mittelmäßig vorbereiteten Interviewer Rede und Antwort.

Die Essenz des Interviews bildete die Frage, woran es liege, dass ein kleines Land wie Dänemark relativ intakt durch die Turbulenzen des 20. Jahrhundert gekommen ist und heute als eines der reichsten Länder dasteht, dessen Bewohner ein geborgenes, wenn nicht geradezu verwöhntes Leben führen am Rande der Irrungen der großen Welt. Ob diese günstige Lage auf einen Masterplan, einen bestimmten Volkscharakter, etwas nur für Dänen Typisches zurückzuführen sei?

Lidegaard lehnt den Glauben an Masterpläne oder gar Volkscharaktere ab und sieht die Ursache für die günstige Entwicklung Dänemarks in einem Phänomen, das er etwas nebulös die großen Inklusionen nennt: Entwicklung und Erfolg seien dadurch befördert worden, dass die Bevölkerung selbst die Verantwortung für die Entwicklung des Landes übernommen habe, sich in Bewegungen organisiert habe, welche die Geschicke des Landes in die Hand nehmen konnten: Genossenschaftsbewegung, Arbeiterbewegung, Gewerkschaftsbewegung, Sozialdemokratie… Aber halt, stopp, denke ich da, die gab’s doch auch außerhalb Dänemarks, in England, auf dem europäischen Kontinent, das sind doch keine dänischen Erfindungen!

Eine weitere Bewegung nannte Lidegaard dann auch noch, und zwar eine, die in diesem Kontext vielleicht tatsächlich einen besonderen Stellenwert einnimmt, tatsächlich eine einzigartig dänische Erfindung ist, nämlich die Volkshochschulbewegung, diejenige, die auf Ideen des Kirchen-, Staats- und Schulmannes Grundtvig zurückgeht, der der Ansicht war, dass demokratische Mitbestimmung der Bevölkerung nur dann einen Sinn ergibt, wenn diese über eine entsprechende Kenntnisse verfügt: Bildung für Jedermann erschwinglich und ohne Leistungsprüfungen, so wurde die dänische Volkshochschule geboren — im Jahre 1844. Dass Bildung im Sinne vom Wissen über das Gemeinwesen zur Mündigkeit der Bevölkerung einfach eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist, diese Erkenntnis setzte sich andernorts in Europa, insbesondere in Deutschland, leider erst sehr viel später durch — wenn überhaupt.

Aber wie steht es um diese Volkshochschulen heute? Da sie aus öffentlichen Geldern finanziert werden, und da der mündige Bürger auch eine potentielle Bedrohung gegen bestehende Verhältnisse darstellt, einfach schon weil er sie plötzlich hinterfragen könnte, waren sie durchaus ein Dorn im Auge der bürgerlich-rechtspopulistischen Politik in Dänemark. Einsparungen sowie die auferlegte Verpflichtung, eigene Einnahmen zu generieren, haben die ursprüngliche Idee dieser Volkshochschulen mittlerweile dermaßen ausgehöhlt, dass das, was davon übrig geblieben ist, eher zweifelhafte betriebliche Fortbildungscenter sind als Orte der staatsbürgerlichen Weiterentwicklung. Für Leute mit geringerem Einkommen sind Kurse an dänischen Volkshochschulen mittlerweile unerschwinglich, und diejenigen, die es sich leisten könnten, haben heute andere Optionen für das, was heute gern für Selbstverwirklichung gehalten wird. Geblieben von der ursprünglichen Idee ist vor allem der unerschütterliche Glaube daran, dass Dänemark sowieso alles besser kann als der Rest der Welt. Eine nationale Selbstbeschwörung, deren Realitätsbezug leider immer zweifelhafter wird.

Hörer hatten die Möglichkeit während der Rundfunksendung anzurufen und Fragen an Lidegaard zu richten. Im Laufe der etwa 30 Minuten, denen ich der Sendung zuhören konnte, riefen drei Männer an. Dabei wunderte ich mich darüber, wie viele Leute es gibt, deren übrige Beschäftigungen ihnen offenbar genügend Zeit und Muße lassen, an einem Montagvormittag beim Rundfunk anzurufen, um unter dem Deckmantel des Fragestellens der Öffentlichkeit ihre eigenen Ansichten kundzutun.

Einer der Herren sprach vom Monster der Globalisierung, dem Dänemark doch endlich Einhalt gebieten müsse, denn am Ende fresse es uns alle (sprich die Dänen) auf. Aber leider, leider könne Dänemark ja rein gar nichts mehr unternehmen, da die Souveränität des Landes bekanntlich an Brüssel abgegeben worden sei. Wäre Dänemark nicht in einer wesentlich besseren Lage, so die Frage an Lidegaard, wenn es frei über seine eigenen Angelegenheiten entscheiden könne.

Lidegaard versuchte daraufhin, dem besorgten Hörer zu vermitteln, dass die Bindungen durch die EU-Mitgliedschaft ja auf Gegenseitigkeit beruhten, andere, mächtigere Länder als Dänemark ja auch gebunden seien, und dass eine Einrichtung wie die EU verhindere, dass die Stärkeren den Schwächeren die Bedingungen diktierten, so wie bis Ende des Zweiten Weltkrieges, als Dänemark lediglich ein machtloser Satellit Deutschlands gewesen sei und sich habe unterordnen müssen. Das Postulat einer nationalen Souveränität sei daher für einen kleinen Staat eine gefährliche romantische Illusion.

Die Fragen der beiden anderen Anrufer waren größtenteils Variationen über dasselbe Thema. Die Vorstellung, dass Dänemark außerhalb der EU und anderer zwischenstaatlicher Gemeinschaften freier in der Welt agieren könne, scheint weit verbreitet unter Dänen. Man hätte zwar einerseits gern alle Vorteile einer vertraglichen Regelung, lehnt es aber andererseits ab, irgendwelche eigenen Verbindlichkeiten in Kauf nehmen. Die Regeln mögen doch bitte schön nur die Anderen einhalten. Wir Dänen regeln dann unsere Angelegenheiten, wie wir möchten, ausschließlich zu unserem eigenen Vorteil. Für uns sollen z.B. alle Grenzen offen stehen, nur unsere eigenen machen wir dicht. Wir möchten die Vorteile einer gemeinsamen europäischen Währung, nur nicht den Euro. Wir möchten unbeschränkten Zugang zu den Märkten unserer Nachbarn, aber umgekehrt sollten sich diese doch etwas zügeln. Wir möchten gern die vermeintlichen Vorteile geschlossener europäischer Außengrenzen, aber weder an einer solchen Zusammenarbeit mitwirken, noch unseren Anteil an Zuwanderern aufnehmen. Wir möchten gern ungehindert Ferienwohnungen im Ausland kaufen dürfen (und diese dann in Dänemark besteuern), aber Ausländer sollen die Finger von Immobilien auf dänischem Territorium lassen. Wir möchten überhaupt gern jede Leistung annehmen, allerdings kommen Gegenleistungen für uns nicht in Frage. Die Anderen interessieren uns dabei nicht wirklich. Selbst bei den bevorstehenden Parlamentswahlen interessiert uns nur, wie viel für uns im eigenen Portemonnaie dabei übrig bleibt, politische Visionen für die Zukunft sind uns egal.

Was ist aus Grundtvig und den “großen Inklusionen” nur geworden?

Der er lukket for kommentarer.

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